
Stakeholder hießen früher Zielgruppen: In 30 Jahren haben sich willenlose Konsumzombies nun zu eigen-willigen Stakeholdern gemausert, die vielstimmig, vernetzt und kritisch agieren. Wie können Marketing und PR auf Augenhöhe kommunizieren? Inwieweit können Unternehmen sogar Impulse aufnehmen? 5 Vorteile einer emanzipierten Zielgruppe – und 5 Stufen der Stakeholder-Integration.
Bis in die 80er visierten Kommunikationskonzepte „Zielgruppen“ an: Konsument.innen mussten sich vor Pfeilen hüten oder standen im Fadenkreuz eines Zielfernrohrs. Diese Symbolbilder gebar die Vorstellung, dass willenlose Käufer.innen mit der geeigneten Munition (Werbeversprechen) in der richtigen Waffe (Medium) zum richtigen Zeitpunkt (Customer Lifetime, oftmals noch „Saison“) getroffen willenlos in den nächsten Laden stürmten, um ihrem injizierten Wunsch nachzugehen.

Stakeholder wollen ja auch was
In den 90ern bekamen Zielgruppen eine eigene Meinung: PR-Konzepte befassten sich nun mit Stakeholdern und deren Interessen. Die Kundschaft fand sich in einem Teich aus überlappenden Teilöffentlichkeiten wieder, zu denen auch Beleg- und Nachbarschaft wie Umweltinitiativen gehörten. Stakeholder vertraten meist Interessen: Sie repräsentierten eine Gruppe und hatten dadurch Legitimation, meistens Expertise und in jedem Fall ein Stück Macht. Ihr deutsches Pendant „Anspruchsgruppen“ war egalitärer und anonymer konnotiert. Und bei einem Austausch formten sie „Dialoggruppen“ – wenn auch oft noch nicht auf Augenhöhe. Zumindest aber hatten sie einen Willen und eine Überzeugung, nicht mehr nur Impulse und Triebe.
Etwa 5 Jahre nach der Jahrtausendwende ermöglichte das Web 2.0, dass sich jede Meinung kundtun konnte. Repräsentative Systeme wie Parteien, Parlamente und generell Großorganisationen, die nur denjenigen eine Stimme gaben, die eine Kaderschmiede durchlaufen hatten, empörten sich, dass nun alle Gehör fanden. Auch die Presse gehört zu jenen Systemen; „Holzmedien“, in denen Berufene den beschränkten Blattplatz verteilen, singen Nostalgische immer noch Loblieder und schmähen jedes journalistische Ansinnen, wenn es lediglich online publiziert.
Harmlose Anfragen werden Shitstorms
Sobald sich Organisationen in sozialen Medien präsentierten, wurden sie gewahr, dass jede Anfrage die Reputation beeinflusst: Eine unzufriedene Kundin erhält weit mehr Aufmerksamkeit, als wenn ihre Erfahrung im Bekanntenkreis verbleibt. Schnell wurden aus Servicewüsten blühende Landschaften – immerhin konnten sich auch positive Konsumerlebnisse viral ausbreiten.
Shitstorms offenbarten aber, dass sich Empörung leicht organisieren kann und Gemeinschaften unterhält. Weil der Begriff berechtigte Kritik diffamiert, schlagen wir vor, ihn für Trollattacken aufzusparen und sonst durch „Kollektivkritik“ (Kollkri) zu ersetzen. Diese bezeichnet ein vielfach vorgetragenes und grundsätzlich berechtigtes Anliegen, von dem man sich nicht wie vor Stürmen, Lawinen oder hohen Wellen schützen muss. Wenn man sich als Teil der Social-Media-Gemeinde versteht, hilft offene und selbstreflektierte Entgegnung. Und wenn Wut manch harsche Worte gebiert: Große Emotionen bieten auch große Chancen; manche Organisation gewann Vertrauen, weil sie sich in der Krise selbstkritisch und lernbereit zeigte!
Anpassungsfähige Kommunikation
Organisationen haben sich darauf eingestellt und vermeiden Reputationsrisiken, indem sie soziale Netzwerke monitoren und Stakeholder verstehen lernen. Unternehmenskommunikation ist nicht nur Mund, sondern auch Ohr: Sie muss Stakeholder ansprechen und vor- wie nachher zuhören, um Kommunikation zu regeln. Letztendlich entwickeln sich Dialoge, die vielseitige Interessen berücksichtigen, gesellschaftliche Gruppen gleichberechtigen und Organisationen Verantwortung übertragen.
Derartige Kommunikation ist selbst für PR-Profis mühevoll: Im brummenden Tagesgeschäft fehlt vor allem Zeit, diverse Perspektiven zu berücksichtigen und treffend anzusprechen. Da der Kontext überwiegend international ist, muss Kommunikation Identitäten, aber auch Kulturen, Sprachen und nicht zuletzt Bildkonnotationen kennen und berücksichtigen. Verständlich, dass vor allem diejenigen, die Privilegien genießen und den Kampf um Anerkennung nicht kennen, die Gemengelage strapaziert.
Öffentlichkeitsarbeit nach innen
Unternehmenssprecher.innen haben nun die Aufgabe, nicht nur Stimme in, sondern auch für die Öffentlichkeit und einzelner Gruppen in ihre Organisation hinein zu sein. Als kritische Kundschaft, wissbegierige Journalistin, kampagnenorientierter Verband, besorgter Anwohner, diverse Bewerber.innen und nicht zuletzt als Anteilseignerin, die Profit und Moral aufwiegt, vervielfältigen sich die Standpunkte und Haltungen der PR-Abteilung. Die bezieht dafür oft Schelte, weil sie den gewohnten Betrieb ausbremst.
Alle unbequeme Veränderung stößt auf Abwehr: Oft sind ein homogener Vorstand, eine sprachmächtige Rechtsabteilung und ein hemdsärmeliger Vertrieb zu bekehren – bestenfalls noch mit Human Relations als Unterstützung für Diversity. Corporate Communications kann nun beweisen, dass sie Change in der Organisationskultur nicht nur umsetzen, sondern auch anstoßen kann. Allerdings für ein schwieriges Vorhaben, das nur mit Systematik glaubhaft ist und trotzdem auf absehbare Zeit kein Ende findet.
CSV: Gemeinsam Wertschöpfen nutzt 5-fach
Warum überhaupt die Mühen? Während Unternehmen die Aufwände für CSR als optional bislang eher scheuten, offenbart CSV auch kurzfristig Vorteile. Creating Shared Value erzeugt nicht nur für Shareholder, sondern auch für die Gesellschaft Werte. Dieses substantielle Geschäftsmodell erzeugt
- einen Marktvorteil gegenüber Platzhirschen (wie Katjes gegenüber Haribo).
- News, neue Fürsprache (Influence) und neue Konsumgruppen (Lidl vertreibt Bioland).
- Motivation von Bewerber.innen und Mitarbeiter.innen sowie deren Bindung (BASF).
- Argumentationshilfen für Public Affairs (Tetrapak).
- Reparatur, Schutz und Resilienz im Hinblick auf Reputationskrisen (Nestlé als CSV-Pionier).
Stakeholder Engagement in 5 Stufen
Organisationen können Stakeholder grob in fünf Stufen ansprechen und einbinden, um gemeinsam CSV zu erzeugen.
1. Transparenz: Karten auf den Tisch
Leider pflegte die PR-Branche bislang, Informationen nicht nach ihrem Gehalt, sondern nach ihrer Anmut zu verbreiten. Und als gehütetes Geschäftsgeheimnis geht vermutlich noch die Kaffeesorte in der Büroküche durch. Aber beziffern Sie zumindest Ihren Ressourcenverbrauch abseits der Kernrohstoffe, teilen Sie Wissen, Fähigkeiten und Werkzeuge und erlauben Sie dies auch Ihren Angestellten.
2. Dialogische Customer Journey: Gespräche an allen Tresen
Schon jede kritische Anfrage im Servicecenter sollte ein Beziehungsmanagement in Gang setzen – eine Beschwerde ist ein Wunsch nach Dialog. Dieser birgt vervielfacht und verstetigt unbezahlbare Quellen für Marktforschung, Issue Monitoring und Geschäftsentwicklung. Deshalb ist es ratsam, den gesamten Vertrieb daraufhin umzustellen, auch Informationen einzuholen. Und alle Mitarbeiter.innen zu schulen, die Organisation in der Öffentlichkeit zu vertreten, auch wenn sie keine Corporate Influencer sind, Feedback einzuholen und weiterzugeben.
3. Lobbytreffen und Meinungsaustausch: in Foyers und an runden Tischen
Treffen Sie sich mit Stakeholdern und hören Sie, was sie fordern. Laden Sie Ihre größten Kritiker.innen zu Blogbei- und Vorträgen ein. Fast sicher erhalten Sie reihenweise vernünftige Vorschläge, können Kritik den Wind aus den Segeln nehmen und Ihre Geschäftsräume durchlüften. Bootcamps für Anspruchsgruppen sind dann schon Windgeneratoren: Wichtig ist, dass Sie eine professionelle Moderation und ein inspirierendes Rahmenprogramm bieten. Hier können Kundinnen Produkte verbessern, aber auch Geschäftsmodelle überdenken und Visionen gestalten.
4. Mitbestimmung und Kollaboration: Marketing-Volksentscheide und Karotten
Wenn Sie Ihre Kund.innen erreichen wollen, fragen Sie doch einfach, welcher Content ihnen gefällt. Registrierung und Moderation verhindern, dass Trolle Abstimmungen kapern (sollte es jene zu viele geben, helfen die Schritte 1 bis 3). Da Käufer.innen das Marketing finanzieren, könnten sie ja auch über den Kurs entscheiden: Themen bestimmen, Projekte anstoßen, kreative Ideen einbringen oder gleich selbst Content erstellen. Gute Ansinnen sind Ansätze, sich sogar gemeinsam zu engagieren: In gemeinsame Initiativen können Sie mit Ihren Stakeholdern an einem Strang ziehen.
5. Stakeholder-Integration: Sturm im Stammhaus
Um glaubhaft einen Purpose mit Verbesserungsabsicht zu vermitteln, kommen Organisationen eigentlich nicht umhin, Stakeholder überall einzubinden: Verbraucherschutz in den Kundenservice, gewerkschaftlichen Einfluss auf Arbeitsverträge oder Nachhaltigkeitsinspektionen entlang der Lieferketten. Das geschähe natürlich nur, wenn Kaufentscheidungen konsequent Ethik berücksichtigten und einen Wettbewerb um Konsequenz anstießen. Viele Fragen um Datenschutz, Kontinuität der Prozesse, Spionageabwehr und andererseits korumpierbare Stakeholder sind in diesem Schritt allerdings ungeklärt und vielleicht unklärbar. Aber als Brainstorm taugt der Gedanke allemal!
Wie kann man Stakeholder noch in Organisationen integrieren? Wir freuen uns über Ihre Kommentare!