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Unternehmenspersona – Charakter einer Organisation

Die Unternehmenspersona kann real oder wie hier schematisch und computergeneriert sein.

Unternehmenspersonas finden sich kaum in Kommunikationskonzepten, während Zielgruppenpersonas Standard sind. Dabei kann die Beschreibung einer Organisations-Persönlichkeit nicht nur die Kommunikation vereinheitlichen und leiten, sondern auch Werte transportieren und Identifikation ermöglichen. Welche Dimensionen für eine Senderpersona zu beachten sind, zeigt unsere Scorecard.

Zum 1 x 1 der Kommunikation gehört die Persona-Beschreibung: In den letzten 15 Jahren hat sie sich in Marketing- und PR-Konzepten durchgesetzt – was eine starke Persönlichkeit! Kommunikationsprofis skizzieren nicht nur soziodemographische Faktoren ihrer Adressat.innen wie Alter, Geschlecht und Einkommen; sie beschreiben Lebensentwürfe und Tagesabläufe, Ängste, Wünsche, Hoffnungen, Bedürfnisse, Meinungen und Musikvorlieben und versehen ihren Aufriss mit authentischen Bildern. Manche beschreiben indes lieber „Personae“ – in unseren Ohren klingt das etwas gestelzt, darum bilden wir den Plural marketingenglisch statt lateinisch. Und mit „Unternehmen“ meinen wir in der Regel jegliche „Organisationen“…

Mit welcher Stimme spricht ein Unternehmen?

Wer ist der Mensch, den sich Stakeholder vorstellen, wenn ein Unternehmen

für Stakeholder twittert,

Twitterlogo

sein Angebot online vorstellt.

Website

Bewerbungen erbittet oder

Employer-Website

häufige Fragen beantwortet?

Sprechblase mit Fragezeichen

Kaum jemand machte sich bislang Gedanken darüber, dass auch der Absender eine Persona haben könnte; eine analytische Dissertation erkennt 2006 zumindest den Bedarf, den Markenpersönlichkeiten nicht decken und ein Blogbeitrag 2007 ansatzweise ausführt.

Auch wenn Vorstandsvorsitzende in der Öffentlichkeit bekannt sind, wirkt ihre Aura kaum bis in die Tiefen von Produktdetails. Meinungsstarke Gründerpersönlichkeiten mögen mitunter die Wirkkraft entfalten, dass Ton und Handschrift im Außenauftritt wahrnehmbar sind. Konzerne verlassen sich lieber nicht darauf, denn CEOs wechseln häufig – im DAX im Schnitt alle 4,3 Jahre. Auch die Verantwortlichen eines Social-Media-Kanals sind nicht so prägend, dass sie einer Organisation Gesicht und Stimme geben würden. Selbst Werbefiguren oder -stimmen haben kein solches Gewicht: Wenn der Praktiker-Baumarkt tweetet, vernehmen Sie die markige Stimme Manfred Lehmanns? Nicht einmal Thomas Gottschalk als eines der bekanntesten deutschen Markentestimonials jemals erschien zu seinen Zeiten vor dem geistigen Auge, wenn sich Goldbären tummelten.

Trotzdem hat ein Markentext wie jeder Text eine Stimme: Manchmal ist sie diffus und kaum wahrnehmbar, oftmals vergegenwärtigen sie sich Adressierte auch nicht. Ihre Tonalität hängt von vielen Faktoren wie Lesegewohnheiten, Leseumfeld und dem Kanal ab, vor allem aber natürlich von der Wort- und Themenwahl:

  • Die Schnauze der BVG auf Twitter stellen wir uns Berlinerisch, jung und frech vor; ihr persönlicher und witziger Charakter macht die frühere Auslöserin für Ärgernisse zur Sympathieträgerin.
  • Die Commerzbank wirkt auf zwei unserer Testleser.innen dagegen bemüht und uneinheitlich, weil sie in verschiedenen Stilen zu mehreren Zielgruppen spricht.
  • HSBC kann englische Lockerheit mit Verbindlichkeit kreuzen, weil die Großbank nicht nur informieren, sondern sich vor allem engagieren will.
  • Zwar nennt Carglass die Tweetenden aus der Kommunikationsabteilung – trotzdem hören Lesende tendenziell eine aufgeregte Stimme, die der strapaziösen Werbung nacheifert.

Unternehmen als Sender

Schematsiche Person: Unternehmenespersonas sollten passend zur Organisation gestaltet werden.

Die Unternehmenskommunikation kann ihren Ton vereinheitlichen, wenn sie sich eine aussagekräftige Stimme konstruiert. Dazu helfen Gedanken, welche Persönlichkeit hinter ihren Botschaften steckt: Alter, Aussehen, Stil und Milieu. Je konkreter diese Beschreibung ausfällt, desto mehr taugt sie zur Identifikation – mindestens für die Angestellten in PR und Marketing. Hat die Unternehmenspersona Strahlkraft, kann sie auch für den Empfang, das Servicecenter und andere Stellen mit Außenkontakt prägend sein.

Überlappende Symbole für Mann und Frau.

Ob die Unternehmenspersona in identitätssensiblen Zeiten ein Geschlecht hat, entscheidet die Organisationskultur: Innovative, global aufgestellte Absender können das offenlassen; tatsächlich taugt auch eine Persona mit diffusen Merkmalen, denn sie muss keinem realen Menschen gleichen: eine geschlechtslose Comiczeichnung etwa für ein Gesundheitsprodukt, ein Elektroauto für einen Automobilhersteller, ein künstlerisch-abstrakte Darstellung für ein Museum oder ein diffuser Android für die Anlage-KI eines Fintechs sind denkbar. Anderen Organisationen hilft eine Mann-Frau-Zuordnung, weil ihre Positionierung als Kümmerer oder Beschützerin einfacher fällt, wenn sie ein mütterliches oder väterliches Bild entwickeln.

Persönliche Werte

Die Unternehmenspersona kann sogar grundlegende Werte vertreten, die als Leitbild für eine Organisation gelten und als Person plastischer sind: Innovationsfreude, Kundenorientierung Nachhaltigkeit oder Verantwortung – selbst ein fiktiver Charakter kann konkrete Aussagen treffen und mit Beispieltaten Vorbild sein. Er kann Eigenschaften und Fähigkeiten tragen, die für die Identifikation der Mitarbeitenden dienen, aber auch nach außen hin die Organisation repräsentieren. Mit einer Senderpersona lässt sich vortrefflich Organisationskultur aufbauen und festigen – gerade Compliance-Regeln leiden meistens darunter, dass sie nicht plastisch und praktisch kommuniziert werden.

Auch ein Comicauto kann eine Unternehmenspersona darstellen.
Ein Auto kann Vorbildcharakter haben: rücksichtsvoll und hilfsbereit im Straßenverkehr.

Nicht zuletzt hätte auch bei vielen faden Purpose-Definitionen ein prägnantes Persönlichkeitsprofil gutgetan. Marken scheuen sich, negative Wirkungen ihres Handelns anzuerkennen und anzusprechen; über was die Öffentlichkeit bei Unternehmen gern hinwegsieht, würde sie bei Individuen rüffeln. So könnten Personas auch dazu dienen, egoistisches und allzu überhebliches Auftreten zu erkennen. Kommunikationsprofis können Ihre Arbeit reflektieren, wenn bei ihrer PR-Arbeit zu viel Stolz oder Selbstlob mitschwingt.

Unternehmenspersona prägt Strategie und Tonalität

Eine Persona taugt auch als Leitfigur für die Kommunikationsstrategie. Sie muss keineswegs das überall auftauchende Maskottchen sein, sondern beantwortet auch die hintergründigere Frage: Wie würde unsere Persona mit was über welche Kanäle kommunizieren? Wie gestaltet sie ihre Beziehungen zu Stakeholder.innen von Angestellten über Kund.innen bis Partner.innen und Multiplikator.innen?

In der Unternehmenspersona manifestiert sich ein Kommunikationstyp bzw. eine -rolle, in die Corporate Communications schlüpfen und damit einen konsistenten Auftritt erreichen kann. Die Persona gibt einen Sprachschatz vor, der eine Grundtonalität und konkretes Wording vorgibt. Und die Rolle hilft als Mindset, wenn sich Community-Manager.innen mit kritischen Anfragen auseinandersetzen und hierbei mit dieser Rolle Abstand gewinnen, um ausgeglichen oder schlagfertig, immer aber souverän zu reagieren.  

Unternehmenspersona-Scorecard

Welche Dimensionen kann die Unternehmenspersona ausfüllen? Anleitung gibt unsere Scorecard:

Scorecard einer realen, fiktiven oder dinglichen Unternehmenspersona zur Bestimmung ihrer äußerlichen und innerlichen Dimensionen.
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Corona forciert Inhouse – und neue Agenturrollen

Inhouse-Projekte erfordern neue Arbeitsformen für Marketing, PR und Agentur © by anna shvets @ pexels: Frau mit Gesichtsmaske am Laptop

Die Veränderung der Arbeitswelt hat sich durch Corona beschleunigt. Neben digitalen Arbeitsformen bringen die Abteilungen Marketing und Corporate Communications (CC) Kommunikationsmaßnahmen voran, die nicht mehr Agenturen, sondern Angestellte planen und umsetzen. Der Trend zu Inhouse nährt sich in Coronazeiten dreifach:

  1. Anpassungen der Pandemiebekämpfung erfordern schnelle Reaktionen gegenüber Kund- und Belegschaft.
  2. Soziale Kontakte lassen sich reduzieren.
  3. Budgets sind gekürzt oder eingefroren.

Trend zu DIY-Kommunikation

W&V berichtete im September von einer Studie, die die Entwicklung zur „Do-it-yourself“-Kommunikation schon seit 5 Jahren beobachtet und dies mit geringeren Kosten und größerer Agilität begründet. Drei Viertel der befragten Unternehmen geben an, E-Paper, Saleskits, Social Media und Videos selbst zu produzieren. (Dass letztere ohne Agentur entstehen, lässt sich nur mit der Mannschaftsgröße der befragten Unternehmen wie „authentischen“ Produktionen aus der Hüfte erklären.) Drei von Fünf nennen Website-Entwicklung und CC an.

Auch Siemens-Kommunikationschefin Clarissa Haller beklagte im Februar, dass bei ihrem Stellenantritt 157 Agenturen mitspielten und Siemens nicht in der Lage war, allein Texte auf die Website zu stellen. Wie viele andere CCOs hat auch Haller mehr Eigenmächtigkeit verordnet.

Wie können Agenturen jetzt agieren?

In den letzten Monaten haben wir etliche Whitepaper von Kommunikationsdienstleistern gelesen, Webinare besucht und Anleitungen in Blogs gelesen. Ausnahmsloser Tenor: Hier gibt es strategische Tipps und hilfreiche Haltungen – die komplexe Umsetzung überlasse aber besser Externen. Verständlich! Kommunikationsdienstleister leben seit Jahrzehnten davon, dass Auftraggeber.innen wiederkehrende Dienstleistungen auslagern. Sobald Aufgaben Kreativität oder auch nur längere konzentrierte Arbeit erfordern, erteilt CC Aufträge, weil das Tagesgeschäft und seine interne Abläufe binden. Da Kommunikationsarbeit sich nun verschiebt, benötigen Marketing- und PR-Verantwortliche anders gewichtete Unterstützung – und neue Rollenbilder auf Agenturseite.

Konzeption und strategische Beratung

Indem Agenturen weniger Maßnahmen umsetzen und mehr planen, haben sie die Möglichkeit, mehr strategische Beratung anzubieten. Damit kommen sie ihrer Kundschaft entgegen, die einerseits wenig Zeit für Kommunikationskonzepte und andererseits durch VUCA steigenden Bedarf an diesen hat. Zudem ist die Außenperspektive fruchtbar – und spätestens bei Spezialthemen wie neuen Medienformen, neuen Märkten oder speziellen Zielgruppen notwendig.

CC intern stärken

Vor allem PR-Konzepte müssen jetzt die Kommunikationsziele mehr mit den Organisationszielen verknüpfen. Dadurch bietet sich die Chance, CC zu mehr Legitimation zu verhelfen. Argumentationsverstärkung von außen ist gegenüber Vertrieb und Marketing sinnvoll, die kurzfristigere Resultate im Blick haben. Branchenkenntnisse von Externen helfen aber auch gegenüber Vorständen, wenn diese die komplexe Welt der Kommunikation auf eine lineare Wenn-Dann-Beziehung reduzieren oder Unerfüllbares erwarten. „Machen Sie mal was in der FAZ“ hört die Medienarbeit leider immer noch.

Trendscouting und Change-Navigation

Kommunikation wandelt sich: in Sprache, Formaten, Technik und in ihrer Organisation einerseits, durch sich ändernde Medienlandschaften und Stakeholderbedarfe wie -ansprüche andererseits. Agenturen verfolgen den Wandel, blicken in die Zukunft und begleiten ihre Klientel bei notwendigen Schritten. So werden Agenturen zur Organisationsberatung, die Organigramme anpasst, und Personalberatung, die hilft, Stellen strategisch zu besetzen. Dabei wird zum Vorteil, was bisher als Manko schien: Durch die schnelle Rotation gelangen immer wieder Impulse in den Agenturpool –ungewöhnliche Biografien, andere Branchen- und Kulturerfahrungen bieten neue Perspektiven. Agenturen tuen gut daran, ihre Belegschaft breit aufzustellen und Quereinstiege zu erleichtern. Und sich als Werknetz nach außen zu öffnen und mehr als Vollzeitanstellungen anzubieten.

Content mit Empathie und Leidenschaft

Die Außenperspektive erleichtert auch die Content-Erstellung. Aus Gewohnheit bewegen sich interne Redakteur.innen innerhalb des Jargons. So fällt es bei Beiträgen von IT- und Finanzdienstleistern Fachfremden oft schwer, die Inhalte zu überschauen. Vor allem aber, wenn es um eine medien- und zeitgerechte Darstellung geht, können Kreative aus Agenturen helfen: Sie befassen sich mit Trends in Social Media, probieren aus und bringen immer wieder spannende Ideen ein. Sie finden Anknüpfungspunkte für Dramaturgien und Analogien, um packend zu erzählen. Und sie fühlen sich mit Empathie in die Zielgruppe ein, wenn sie in austauschreichen Teams die Perspektive der Persona einnehmen.

Hilfe bei Arbeitsüberlastung

Kommunikationsverantwortliche jonglieren viele Themen gleichzeitig. Schon deshalb fehlt ihnen die Zeit, noch mehr die Ruhe, um sich einer Aufgabe konzentriert zu widmen. Viele kommen nicht einmal zu einem Text, der zwei Seiten übersteigt – von einem Konzept mit Marktrecherche ganz zu schweigen. Zur Hochsaison, etwa der Berichtssaison oder vor Weihnachten, stapeln sich die Aufgaben. Eine Medienanfrage oder ein kommunikativer „Störfall“ wirbeln den Terminkalender sowieso völlig auf. Zu diesen Spitzenzeiten können Kommunikationsprofis zur Seite springen.

In Zeiten wie den jetzigen, in denen Einstellungen gestoppt wurden, können andere Modelle greifen: Retainer werden aufgestockt. Interne Besprechungen schalten Berater.innen hinzu, damit diese selbstständig Projekte im Haus managen oder andere Externe steuern können. Wie im Sport könnten Agent.innen für Monate oder eine Saison ausgeliehen werden – und so eine unbezahlbare Bindung zu den Etatverantwortlichen schaffen. Dass Trainees und Volontierende im Übrigen nicht regelmäßig die Plätze tauschen, ist schlicht ein Versäumnis.

Feedback und Kollaboration

Agenturkund.innen sind in erster Linie Menschen. Diese bringen auf ganz unterschiedliche Weise Erfahrung, (Branchen-)Wissen, kommunikative Kompetenzen, Zeit und Engagement ein. Warum folgen Aufträge aber stets der Formel Briefing ( – Rebriefing) – Ausarbeitung ( – Schulterblick) – Abgabe? Manche Kommunikationsprofis brauchen niemanden, der ihre Arbeit macht, sondern nur ein Gegenüber, um ihre eigene Kompetenz zu entfalten: einen Sidekick, der Kommunikation spiegelt, einen Supervisor, der kommunikative Entscheidungen reflektiert oder auch nur einen Sparringspartner, an dem sich Botschaften schnell mal testen lassen.

Neue Projektmodelle können zu Angeboten führen, die die Ressourcen der Beauftragenden berücksichtigen: etwa ein Analyse-Workshop, der das beiderseitig vorhandene Wissen strukturiert. Oder eine gemeinsame Recherchephase: Benchmarking als Leinwandevent mit Schulterschluss! Vielleicht ein fertiges Konzept vom Marketing, das nur noch qualifiziertes Feedback oder bei den Maßnahmen den kreativen Kick sucht. Aufträge sind möglich, bei denen Textidee und -struktur schon vorliegen und die Agentur als Coach ihre Meinung äußert bzw. den Text ausformuliert. Oder als Lektorat dient, das die Struktur fertiger Absätze überdenkt, Formulierungen hinterfragt, Sprache und Fakten prüft und vielleicht den letzten Schliff gibt.

Kommunikationstraining auf Hausbesuch

Agenturen werden so zu Trainerinnen, die Kompetenz in die Häuser ihrer Kundschaft abgeben. Im Gegenzug können sie ihr Wissen um Branchen und Organisationen enorm erweitern. Letztlich dürfte ihnen klar sein, dass die Etatverantwortlichen die größten Talente sowieso abwerben. Wenn dann schon ein offener Austausch etabliert ist, können aus asymmetrischen Beziehungen Partnerschaften entstehen, die von gegenseitiger Transparenz und gemeinsamen Zielen geprägt sind. Damit wächst die Wahrscheinlichkeit, dass Kommunikation funktioniert und Agenturen wie Unternehmenskommunikation ihr Renommee mehren. KontextLiga freut sich, neue Kollaborationen mit Ihnen auszuprobieren!

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Warum wir gendern sollten – oder es lassen können

Gendern kann anstrengend sein. © by zhang kaiyv @ unsplash: alte asiatische Müde wirkende alte Frau im Rollstuhl
Müde von der schwierigen Suche nach Bildmaterial, das Diversität veranschaulicht.

Seit Anne Will im Mai bei „Steuerzahler… innen“ eine Pause einfügte, ist Gendern Thema in der breiten Bevölkerung. Konservative Medien laufen gewohnheitsmäßig Sturm: Cicero spricht von moralischem Druck, Ulf Poschardt in der Welt von Sprache als Zuchtmeister. Und Bild? Fand es nur seltsam, beleuchtet denkwürdig gelassen die Positionen, während sie 2019 noch Gender-Gaga fürchtete. Wie Polemik gegenüber Gendern in Reinform funktioniert, analysiert Übermedien an der Focus-Titelgeschichte vom 17. Oktober. Zeit, gelassener das Thema anzugehen.

Brauchen wir Gendern?

Sind geschlechtsneutrale oder -sensible Formulierungen in einer stabilen Demokratie wie der deutschen mit einer ausgesprochen freiheitlichen Orientierung nötig? Im Grundgesetz ist die Gleichberechtigung in Artikel 3 schon verankert – gleich zweimal, als ob sich die Verfassenden nicht ganz sicher waren. Aber selbst das scheint nicht zu genügen, wenn trotzdem drei von vier Frauen bei der Heirat die Nachnamen ihrer Männer annehmen, Erziehung wie Haushalt größtenteils übernehmen und, sollten sie arbeiten, bei gleicher Leistung den Gender Pay Gap und später den Pension Gap in Kauf nehmen. Wenn Vorurteile auch Männern zusetzen, weil sie nur maskulin sind, wenn sie im Beruf monetäre Erfolge feiern, alles reparieren können, stets souverän und nie schutzbedürftig sind. Wenn alle, die nicht in die Geschlechterdichotomie von ♀ und ♂ passen, an deren Polarität verzweifeln. Und wenn das Grundgesetz Identität nicht schützt.

Die männliche Sprachform meint als „generisches Maskulinum“ zwar Frauen und alle anderen mit; das gedankliche Bild von Automechanikern oder Richtern dürfte aber meist mittelalte bis ältere, weiße, gutbürgerliche, große, maskuline und relativ schlanke Männer sein, die höchstens eine Brille, sonst aber keine physische Beeinträchtigung haben. Um die Jahrtausendwende hat eine Professorin noch berichtet, dass sie im Wochentakt mit „Herr Professor Margot (!) B.“ adressiert wurde. Leider reicht die Vorstellungskraft nicht, um die einzuschließen, die nicht zur Norm gehören. Der Aufschrei wiederum, als Medien der Uni Leipzig unterstellten, Männer mit „Herr Professorin“ anzureden, zeigt, wieviel Gleichmut und Humor zum Ertragen von Diskriminierung immer wieder nötig ist. Dabei hatte die Uni nur das generische Femininum beschlossen, was unbestreitbar zur ausgleichenden Gerechtigkeit beiträgt.

Diverses Gendern

Gendern rüttelt an Stereotypen und verdeutlicht, dass eine Person vielfältig aussehen und unterschiedliche Identitäten besitzen kann. Gendern selbst ist vielfältig: In Personenbezeichnungen ist von (weiblichen Endungen in Klammern) wie nach / über Binnen-I und : bis zum Gendergap mit _ dem -sternchen * und – noch ganz frisch – einem X am Ende wie bei „Professx“ alles möglich. Viele Texterinnen und Texter nennen auch beide Formen. Erst aber die Binnenlösungen sprechen auch weitere Identitäten an: Intersexuelle, Transgender, Gender-Nonkonforme (etwa Nichtbinäre oder Genderfluide) und Agender. Manche fühlen sich erst durch Gap und Sternchen eingeschlossen, weil diese bewusst dafür geschaffen wurden.

Die Genderwelt ist wirklich nicht leicht. Auch wenn wir Fachrat einholten, fühlt sich durch die genannten Identitäten sicher jemand nicht einbezogen. Fehler beim Gendern gehören quasi dazu, weil Gendern ein permanenter Entdeckungsvorgang ist. Er offenbart mannnigfache Möglichkeiten, die die eigene Identität bereichern. Und sollte ein Text Beschwerden auslösen: Wenn der/die Autor_in Verständnis zeigt, dass der Kampf um Identität und Anerkennung Mühe kostet und bisweilen emotional geführt wird, kann sier damit oft entwaffnen und für das Selbstbild dazulernen.

Reflexion beim Schreiben birgt stetige Erkenntnis: So haben wir schon gegenderte Texte gesehen, die von Mitarbeiter/innen oder Kund:innen schrieben, aber ausgerechnet aktive, machtreiche Rollen wie die des Auftraggebers und Akteurs einseitig männlich ließen. Gendern kann mensch aber auch einfach geschlechtsneutral wie bei Studierenden, der Belegschaft, Menschen zu Fuß und einem Lexikon voll weiterer Vorschläge. Mit Passivformen können sperrige Formulierungen umgangen werden und ebenso, wenn wir dich direkt ansprechen.

Diverse Beispiele und Punkte

Gendern bedeutet schließlich, dass Beispielpersonen aus unterschiedlichen Kontexten stammen, „Mustermenschen“ in der Bildsprache und Zitierte divers sind. Weitere Pluspunkte gibt es, wenn Klischees wie die weibliche Sekretärin des männlichen, älteren Chefs unterbleiben oder Rollen und Handlungen im Text Machtpositionen zementieren. So entsteht ein abwechslungs- und aufschlussreicher Text – ohne ständige Satzzeichen innerhalb von Worten.

Wie schon aufgefallen sein dürfte, sympathisiert KontextLiga mit dem Binnenpunkt. Ästhet.innen stört er wenig, weil das Wortbild so gut wie erhalten bleibt. Über Doppelpunkte können Leser:innen stolpern, weil sie statt r: ein n vermuten. Audioausgaben lesen den Punkt als kleine Pause, wohingegen sie das Binnen-I übergehen und „Unterstrich“ wie „Stern“ nennen. Es gibt auch den Binnen-Mediopunkt: Auch wenn mit ihm Unterstreicher·innen deutlicher Gendern, ist sein Einfügen mühselig. Punkte sollen und dürfen aber keinen Standard setzen: Gerade die Vielfalt der Ausdrucksformen drückt Vielfalt aus – und lässt immer wieder aufs Neue stutzen.

Von Worten und Taten

Die Hauptkritik, dass Gendern den Lesefluss störe, ist abstrus: Denn genau das soll es doch. Es soll immer wieder herausreißen, um Gedanken anzuregen, ob man (!) einer farbigen Richterin ein genauso weises Urteil und einem bepiercten und feminin auftretenden Automechaniker den Ölwechsel zutraut. Gerade diejenigen, die ihre eingespielte Muttersprache vermissen, können sich über kräftige und bereichernde Impulse freuen. Wichtig ist, dass Gendern nicht normal und automatisch überlesen wird.

Genau deshalb haben sprachlich Konservative aber auch ihre Berechtigung, weil nur so Gendern heraussticht. Einige Texte wollen kurz und lesefreundlich sein; und sie dürfen auch inkonsequent nur manchmal gendern. Schöne Literatur soll vielleicht lieber vom bloßen Text ab- und in eine Geschichte lenken, in der sie von klassischen Heldenfiguren abweicht und neue Identitäten entwirft. Und wenn dem Vorstand der Mut im Geschäftsbericht fehlt, weil Anleger.innen vergrault werden könnten: Schon deshalb, weil Beschimpfung kaum bekehrt, sei ihnen verziehen. Immerhin können sie sich noch auf die Grammatik berufen. Diese aber wandelt sich durch den Sprachgebrauch; wer sie konservieren möchte, möge alldieweil tunlich mittelhochdeutsch pauken.

Auch wenn Sprache Realität nicht nur abbildet, sondern gestaltet: Sprache allein reicht ebenso wenig wie Applaus für Pflegekräfte und Nachhaltigkeitsberichte ohne effektive Maßnahmen. Die sich des Genderns erwehren, haben deshalb besonders die Aufgabe, Tatsachen zu schaffen, Klischees aufzubrechen, Freiheiten einzuräumen, Entfaltung zu ermöglichen und Repression in all ihren offenen und subtilen Formen zu unterbinden. Wenn sie dafür sorgen, dass sich auf allen Organisationsebenen die Gesellschaft in ihrer Vielfalt spiegelt und sich nicht dafür anpassen muss, sei ihnen ein traditioneller Sprachgebrauch gewährt.

Wie ist Ihre Meinung zum Gendern? Welche Prognose stellen Sie für gendergerechtes Schreiben? Und welche Anekdoten hat die Auseinandersetzung hervorgebracht? Wir freuen uns auf Ihre Kommentare!